Charger
3 Minuten

Über·fluss

 

Substantiv, maskulin [der]
1.) über den eigentlichen Bedarf hinausgehend
2.) eine Lebenslage, die mehr als das zum Leben Notwendige bietet

Synonyme: Überfülle, Übermaß, Überschuss, Üppigkeit

 

„Beautiful Screamer“, „Mother warned me …“, „Join the Fun, catch Dodge fever“, „warning sport compacts, theres a Charger in town“. Schrei, Warnung, Fieber, Drohung … Das waren die Dodge Charger Anzeigen-Headlines in den US-Automagazinen von 1970, als das Wettrüsten der „big three“ Autokonzerne ihre letzte Stufe zündete.

Was Dodge nicht mit purer Aggressivität zum Ausdruck brachte, erledigten Sex und Ironie. So steht in der „Mother warned me“-Anzeige, der komplette Name des Charger R/T SE klinge in etwa wie Buchstabensuppe, die Werbetexte wirkten wie durchgeknallte Kurzgeschichten und auf beinahe jedem Foto mit dem Urviech setzen knapp bekleidete Damen die Kurven des Coupés erfolgreich fort. Die Farben „Go Mango“, „Plum Crazy“ oder „Top Banana“ boten auch das Gegenteil von Zurückhaltung. Das breite Maul ähnelt frappierend einem Elektrorasierer, einem zornigen allerdings. Es gab ihn in ganz schnell, in total krank schnell und sogar mit Scheibenbremsen, gegen Aufpreis natürlich. Komplett irre sollte man ab 1966 also schon gewesen sein, um einen Charger zu kaufen.

 

Auch in der Filmwelt spielt der Charger mehr als nur eine Rolle. Spätestens zur Berühmtheit machte ihn die legendäre Jagd gegen den Fastback-Mustang von Steve McQueen in Bullitt. Das Auto war Image-technisch einfach geradezu ideal für Killer.
Zurückhaltung geht irgendwie anders. Begriffe wie Vernunft oder Anpassung war aber auch sicherlich kein einziges Mal im Lastenheft der American Muscle Coupés Ender der Sechziger zu finden.

Wie konnte es so weit kommen? Den Anfang der Unvernunft machte eine ganz vernünftige Absprache. Die amerikanischen „Big Three“ Autokonzerne hatten sich geeinigt, Autos für „normale Menschen“ zu bauen und nicht Millionenbudgets für den publikumswirksamen Motorsport und deren sportlichen Ableger für die Straße zu verschleudern. Dummerweise hielt sich nicht jeder Konzern (keiner) daran und ein ziemlich amerikanisches Wettrüsten begann.

 



 

Der Weg zum Overkill in drei Stufen: 1.) chromverschwenderisches Barockmobil mit schlechten Fahrleistungen und mangelhaftem Fahrverhalten ab Mitte der vierziger Jahre bis etwa 1956, dann 2.) das optisch definierte Raketenmobil mit einigermaßen Fahrleistungen und mangelhaftem Fahrverhalten bis 1965, gefolgt von 3.) dem urgewaltigen, formvollendeten Monstermobil mit unglaublich guten Fahrleistungen und mangelhaftem Fahrverhalten, zumindest in Kurven und beim Bremsen. Aha.
Kein Wunder, wenn 426 Cubic Inches, das sind gut Sieben Liter Hubraum und 600 Newtonmeter per Starrachsen versuchen, Halt auf dem Boden zu finden. Aber wichtiger war: Dodge hatte das Wettrüsten gewonnen. Als Nächstes hätten die Macher vermutlich einfach mal 700 PS angepeilt und die Namen der Autos wären blutrünstiger geworden. Vielleicht Dodge Charger Hellcat oder so …

 

Und wie wirkt das Coupé heute? Es ist Zeit, sich dem „Beautiful Screamer“ vorsichtig zu nähern. Es ist: großes Kino und pures Klischee. Stark. Hubraumstark, aufmerksamkeitsstark, stark durstig. Aber auch verzückend schön. Dieser messerscharfe Rücken, der lang gestreckte Body, der sexy Hüftschwung. Das vermutlich formal gelungenste US-Coupé des Jahrzehnts macht tüchtig an. Und noch einmal ganz deutlich: dieses Auto ist schön. Nicht nur sexy.

 


Bis so gut wie kein Zahn mehr da war.


 

Und der Erfolg? „They have hit the Target“, die Zielgruppen gerechte Kundenansprache erreichte trotz Sexismus, Wahnsinn und Buchstabensuppe ihr Publikum mit genau so viel Wucht, mit der spätestens der 425 PS Hemi-Hammer am Asphalt herumriss. Bis 1971. Ab da wurden die Coupés zunehmend beliebiger in der Optik und verloren ihre Zähne in Form von Motorleistung. Bis so gut wie kein Zahn mehr da war. Und sie bekamen Scheibenbremsen. Serienmäßig. Wie langweilig.

 

Das neue Zeitalter begann in Form von Abrüstung. Und dies beinahe genauso konsequent, wie alles vorher eskalierte. Aber nur bei den amerikanischen Coupés. Der Kalte Krieg und das Wettrüsten der Weltmächte sollte erst richtig beginnen. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

Text: Arndt Hovestadt    Fotos: Markus Spiske

 

 

 

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