Matchbox
7 Minuten

 

 

Es ist Sonntag, der 26. März 1978. Oliver weiß das nicht immer so genau und das ist eigentlich auch nicht so wichtig. Für ihn sind erst einmal alle Tage gleich, denn Oliver ist erst fünf Jahre alt. 

 

Er sitzt in seinem Kinderzimmer auf dem Boden, weißes Mehrfamilien-Reihenhaus, zweiter Stock, seine blonden Haare stehen ihm lustig vom Kopf ab. Neben ihm, auf den braunen Fliesen, da liegt ein großer gewebter Teppich in Beige und Orange, der irgendwie gemütlich ist. Mit einem Muster, so ähnlich wie er es aus dem Schaufenster des Orientteppichhändlers in der Stadt kennt, nur dass es dort meistens rote Farbtöne sind. Mit etwas Fantasie erkennt er Straßen und Kreuzungen auf dem Teppich. Prima, die kann er gut gebrauchen.

 

Um ihn herum sind seine Schätze verteilt. Oliver liebt Matchbox Autos. Genau. Er mag sie nicht nur, er liebt sie. Seine Autos sind keine Neuwagen. Die meisten hat er schon gebraucht bekommen. Von jemandem aus der Verwandtschaft, aber er hat vergessen, vom wem genau. Die Autos hat er eben aus dem Matchbox-Koffer geholt, dort sind sie immer untergebracht, wenn er nicht damit spielt. Während der Nacht und auf Fahrten wie in den Urlaub zum Beispiel, denn da müssen seine Schätze natürlich auch mit. 

 

 

 

Sein „Hauptquartier“ hat er auch aus dem Regal geholt, es ist ein tolles buntes Matchbox-Autohaus aus Plastik. Zweigeschossig natürlich, mit einer Rampe für die obere Ausstellungsfläche und Aufzug. Gerade hat er die besten Autos aus der oberen Etage um die Ecke hinunterrollen lassen und baut sie nebeneinander auf. Ganz ordentlich, denn er spielt gerne „Autos verkaufen“. Mit Probefahrt auf dem riesigen Teppich natürlich, denn darauf sind Kreise und Geraden, die mit ein bisschen Fantasie aussehen wie Straßen. Oliver imitiert das Geräusch der Motoren mit einem sehr professionellen Brummen, findet er. Je mehr PS, desto lauter ist sein Brummen, ist doch klar. Im Angebot sind Autos wie VW Bulli, Hanomag, Ford GT40, Porsche 911 als Polizei-Einsatzwagen, Opel GT, Ford Mustang und Mercedes-Benz 300 SL. 

 

Er kennt die Namen der guten Autos seiner Sammlung auswendig, denn das ist ja auch für seine Verkaufsgespräche wichtig. Obwohl er natürlich schon weiß, dass die Kunden seine Autos kaufen, weil er auch diese selbst spielt.

Im Wohnzimmer läuft Hardrock (oder wie das heißt). Stairway to Heaven von Led Zeppelin ertönt von einer Kassette auf der Schneider Kompaktanlage. Findet er ziemlich klasse. Vorhin lief Pink Floyd, er hat „Shine on you crazy diamond“ leise mit gesummt. Die Lieder von Pink Floyd kennt er sogar schon auswendig und singt sie manchmal mit, obwohl er nur drei Worte Englisch wirklich versteht. Aber das macht nichts, schließlich ist er ja erst Fünf.

 

 

 

Gerade kommt er von einer Probefahrt mit dem GT40 zurück. Boah. Der Rennwagen war echt mit einem Affenzahn unterwegs und hat die Kurve zum Autohaus so gerade noch gekriegt, nachdem er einen Mercedes Krankenwagen überholt hat. Der war nämlich total langsam unterwegs. Das liegt daran, dass er keine Reifen mehr hat und nur noch auf Felgen fährt. Ist aber nicht schlimm, denn der Benz ist nicht von Matchbox, sondern als Einziger von Siku und darf deswegen sowieso nicht immer mitspielen.

 

Welcher Mercedes das ist, weiß er daher auch nicht so genau. Den Namen des GT40 aber kennt er nicht nur, er hat ihn verinnerlicht. Er hat seine Eltern so lange mit Fragen gelöchert, bis er den Namen wusste (sie mussten auch jemanden fragen, der sich mit Rennwagen auskennt). Dieses Auto ist sein Favorit und er verkauft es meist zuerst, um es dann möglichst schnell wieder zurückzukaufen, denn eigentlich ist es unverkäuflich. Der Preis ist deswegen sehr hoch: fünf Mark. In Gedanken. Das ist sehr viel Geld, alle anderen Autos kosten viel weniger, manche nur zehn Pfennig. Und trotzdem ist der GT40 immer als erstes Auto verkauft, weil er der fetzigste ist. Weil er statt einer Hutablage einen riesigen roten Motor unter der Heckscheibe hat, das muss man sich mal vorstellen.

 

 

 

Nun parkt der Ford wieder auf dem besten Platz vor dem Autohaus, allerdings nachdem Oliver noch das Strafmandat bei der Polizei bezahlt hat. Oje, der 911 mit Blaulicht auf dem Dach war ihm auf die Schliche gekommen, als er eben zu schnell gefahren war.

Zwischendurch werden die Autos getankt, denn natürlich hat sein Autohaus auch eine Tankstelle. Oder er fährt sie noch schnell durch die Waschanlage. Schließlich sollen sie ordentlich sauber sein, wenn ein Käufer kommt. Einmal hat er versucht, so eine Art echte Waschanlage nachzubauen und da hat er die Autos mit Sidolin Streifenfrei aufs der Vorratskammer eingesprüht. Aber da hat er etwas Ärger bekommen, obwohl er extra Zewa Wisch & Weg darunter gelegt hat. Aus der Küche duftet es nach Mittagessen, er ist schon volle Kanne gespannt, was es heute gibt. Nun singt Supertramp „Dreamer“ im Wohnzimmer und er beschließt, nach dem Essen ein richtiges Autorennen zu machen. Als Reklame für das Autohaus, ist doch klar.

 

 

 

Oliver betreibt nicht nur einen erfolgreichen Matchbox-Autohandel, er repariert die Autos auch in der eigenen Werkstatt, die in der unteren Etage seines Autohauses zu finden ist. Heute ist ein Opel Caravan dran. Dem fehlt ein Teil der Heckklappe. Kein Problem, mit etwas Tesafilm ist er sofort wieder fertig und kann auf die Ausstellungsfläche zurück. Meist hat dann auch noch irgendwer eine Panne, ein Glück hat sein Autohaus natürlich auch einen Abschleppwagen, der liegengebliebene Autos sofort wieder zurückbringen kann.

Wenn Oliver mit seinen Matchbox Autos spielt, ist er in seiner Welt und Zeit spielt keine Rolle, er ruht in sich und ist zufrieden. Seine Mama ruft ihn gerade zum Essen und er hört an ihrer Stimme, dass es nicht das erste Mal ist. Huch, vorher hat er es wohl nicht gehört.

 

 

 

Fast fünfzig Jahre später: Oliver sieht eigentlich immer noch aus wie der verschmitzte kleine Junge von damals, denn er hat sich seine Jugendlichkeit bewahrt. Auch wenn einige Lachfalten dazugekommen sind. Lebensfreude hält jung, hat er einmal gelesen. Leidenschaft bestimmt auch, denkt er. Mittlerweile ist Oliver klargeworden, wie wichtig die Zeit mit seiner Leidenschaft für Spielzeugautos und die damit verbundene Freude damals für ihn war. Sie hat sein ganzes Leben geprägt und tut es bis heute. Auch wenn er nicht, wie damals geplant, Autohändler oder Werkstattbesitzer geworden ist.

 

Irgendwann als er in den Dreißigern war und die wirklich wichtigen Themen wie Job und Familie im Griff hatte, ging es mit ihm durch. Denn da brannte die Leidenschaft für Autos aus seiner Kindheit ein so großes Loch in sein Gemüt, dass er praktisch blind vor Verlangen seinen ersten Klassiker kaufte. Und einen relativ hohen Preis bezahlen musste, denn das gute Stück war furchtbar schlecht. Oder anders gesagt: qualitativ in etwa so gut wie ein jahrzehnte altes, stark bespieltes Matchbox-Auto. Das ist ihm nie wieder passiert. Heute ist er in Sachen klassischer Automobile ausgesprochen belesen, kennt Teilenummern und Lieferanten aller relevanten Teile auswendig, hat einen Freundeskreis mit der gleichen Leidenschaft und ist bestens vernetzt.

 

Das ist gut so, denn seit einiger Zeit besitzt er einen echten Klassiker aus den frühen siebziger Jahren. Aus seiner Kindheit, gebaut exakt im Monat seiner Geburt. In leuchtendem Orange natürlich und im Traumzustand. Keinen GT40, der ist heute ähnlich unerreichbar wie damals, sondern einen Opel GT, der ihn auch als Spielzeugauto begeistert hat.

 

 

 

Das Haus, in dem Oliver mit seiner Familie wohnt, hat er auch deshalb gekauft, weil ihm die Garage ziemlich gut gefiel. Denn die ist groß, hoch genug für eine Hebebühne und hat eine Dachgaube mit Fenstern. Außerdem bietet die Garage Platz für einen gemütlichen Sessel aus den siebziger Jahren. Der Sessel steht auf einem gewebten Teppich in Beige und Orange, auf dem auch gerne Olivers Kinder spielen. Manchmal sitzt er gemütlich auf dem Sessel, schaut sich einfach das Auto an und hört dazu die Musik von früher. Zum Beispiel Pink Floyd wie bei seinen Eltern, oder The Doors und Jimi Hendrix. 

 

Und wenn er da so sitzt und sich die betörenden Linien seines Klassikers ansieht, spielt die Zeit keine große Rolle. Genau wie damals. Manchmal reicht es ihm, das Lichtspiel auf der ikonischen „Cokebottle“-Form seines GT so lange anzusehen, bis die Sonne untergegangen ist. Die geschwungenen Linien verändern sich dabei im Minutentakt mit dem Tageslicht. Mal steht der Klassiker vorwärts, manchmal rückwärts auf seinem Platz, denn spannend ist er von allen Seiten. Sogar der Tankdeckel ist für ihn ein Kunstwerk. Nein, Oliver muss nicht unbedingt fahren, um sich an seinem Klassiker zu erfreuen, er fährt ihn ohnehin nur an sonnigen Tagen und ein paar hundert Kilometer im Jahr. Den GT anzusehen, einen Service durchzuführen, ja selbst die Pflege einer Gummileiste macht ihn praktisch genauso glücklich. 

 

Auch heute sitzt Oliver in seiner Garage. Er atmet den Duft von Schmiermitteln, Benzin und Gummi ein und ruht einfach in sich selbst, genau wie damals. Der GT steht rückwärts auf dem Platz. Die bis ins Dach gezogenen Türen, die runden, glänzenden Rücklichter auf dem charakterstarken Heck: Es gibt überall etwas zu entdecken, also macht Oliver genau das.
Er denkt an seine Kindheit und wieviel er aus ihr in die Gegenwart mitgenommen hat. Irgendwie hat sich der Kreis für ihn geschlossen und er ist sehr dankbar dafür. Und auf dem kleinen Tisch direkt rechts neben ihm, da liegt sein Koffer mit den Matchbox-Autos.

 

 

Fotos: Marcel Färber
Text: Arndt Hovestadt

 

 

24. Oktober 2023
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